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Samstag, 9. August 2014

„Shirobamba“ von Yasushi Inoue

Als „Shirobamba“ bezeichnen die Dorfkinder von Yugashima die Insekten, die in der beginnenden Dämmerung weiß wirken und dann immer bläulicher erscheinen. Tendiert die Farbe der Shirobamba zum Blau, ist es höchste Zeit für die Kinder, nach Hause zum Abendessen zu gehen. Kosaku ist meist der letzte, der heim zu seiner Oma Onui aufbricht.

Kosaku ist der Augapfel von Oma Onui und lebt wie ein kleiner Prinz. Doch eigentlich ist er mit Oma Onui noch nicht einmal blutsverwandt. Sie ist die Nebenfrau von Kosakus verstorbenen Urgroßvater. Und der Urgroßvater hatte wiederum Kosakus Großvater adoptiert. Kosaku wächst mit seiner gleichaltrigen Tante auf; auch die weiteren Tanten und Onkel betrachtet er eher wie seine Geschwister. So sind in der Familie die offiziellen Blutsbande schon fast vernachlässigbar. Zwischen dem Haupthaus und Oma Onui, die zusammen mit Kosaku im Lagerhaus lebt, gärt es seit jeher - und insbesondere als Oma Onui Kosaku für sich vereinnahmt hat, ist die Situation gespannt.

Yasushi Inoue erzählt mit „Shirobamba“ seine eigene Kindheitsgeschichte, die in den Jahren 1915/1916 angesiedelt ist. Aus der kindlichen Perspektive des Kosaku werden die Beziehungen von Oma Onui und der Familie im Oberhaus beleuchtet, die großen und kleinen Probleme der Kinder illustriert und die Feste, die bei den Kindern für Aufregung sorgen, beschrieben. Kosaku erzählt mit seiner naiven Logik, die dem Leser auf ihre eigene Weise schlüssig erscheint, aber doch oft eine gewisse Komik mittransportiert. So fragt der kleine Kosaku die Urgroßmutter, die mal wieder über ihre alte Rivalin Oma Onui schimpft, allen Ernstes:

„Oma, du bist doch schon so alt, stirbst du da nicht mal? Wann stirbst du denn?“ (S. 12)

Dass jemand in dem hohen Alter der Urgroßmutter, runzlig und gebückt, noch immer am Leben ist, ist doch auch wirklich erstaunlich… Nichtsdestotrotz wird die Tonalität in „Shirobamba“ nie verletzend, selbst wenn der Finger in die Wunde gelegt wird. Was die Urgroßmutter Shina betrifft:

„Shina [...] hatte, seit sie als Braut ins Haus gekommen war, kein einziges Mal die Küche betreten. Bestenfalls konnte man sie als weltfremde, sanfte Dame bezeichnen, genauso gut hätte man aber auch sagen können, dass sie überhaupt nichts taugte.“ (S. 13)

Doch der verzogene Lausebengel hat es nicht nur einfach: Mit Oma Onui macht er sich auf einen Besuch bei seinen Eltern und fühlt sich erst einmal wie ein Fremder. Ohnehin kommt er sich in den größeren Städten wie ein Dorftrampel vor. Und da ist auch noch seine Tante Sakiko, der Kosaku zärtlich zugetan ist. Doch in deren Leben tritt bald ein Mann, auf den Kosaku natürlich eifersüchtig ist.

Mit „Shirobamba“ reiht Yasushi Inoue kleine, herzerfrischende Kindheitsepisoden aneinander. Ins Deutsche übersetzt wurde jedoch nur der erste Teil von Yasushi Inoues Werk. Bleibt die Hoffnung, dass der zweite irgendwann doch noch übersetzt wird.

Bibliographische Angaben:
Inoue, Yasushi: „Shirobamba“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Bollinger, Richmod), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-518-40730-9

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