„‘Ich hätte das alles gar nicht wissen wollen.‘“ (S. 66)
Diesen Satz bekommt der Protagonist Kenji Yamamine in Fuminori Nakamuras „Die
Flucht“ zu hören. Kenji ist der Autor des fiktiven Buches „Menschen, die am
Krieg verdienen“, in dem er finanzielle Verstrickungen von Militär und
Wirtschaft offenlegt und freidenkerische Ideen illustriert. Das macht ihn in
einem angespannten politischen Klima zum Feindbild der Rechten. Die Reaktionen
seiner Leser lassen ihn aber auch an der gesellschaftlichen Entwicklung allgemein
verzweifeln. Sind die Menschen wirklich so einfach gestrickt, dass sie nur noch
entertained werden wollen?
Kenji ist aber nicht nur wegen seiner Autorenschaft eine Zielscheibe. Er hat eine mysteriöse Trompete in seiner Obhut, die einer Legende zufolge während des zweiten Weltkriegs die magische Fähigkeit besaß, Soldaten zu Heldentaten anzustacheln. Der Soldat Suzuki soll sie meisterhaft gespielt haben und so seinen Kameraden zu einem Sieg über die haushoch überlegenen amerikanischen GIs verholfen haben. Mehrere Gruppen verfolgen nun Kenji, um selbst in den Besitz der Trompete zu kommen – allen voran die rechte Q-Sekte.
Kenji hat noch weitere Probleme: Da seine vietnamesische Verlobte Anh bei einer Anti-Rechts-Demonstration auf tragische Weise ums Leben kam, ist sein Lebensmut auf dem Tiefpunkt. Doch er setzt sich das Ziel, Anhs Vision eines Romans, der Geschehnisse aus der längst vergangenen Geschichte und aus der Gegenwart zusammenführt, an Anhs Stelle zu schreiben. Und so setzt er alles daran, das Buch über die vietnamesische Geschichte, die Christenverfolgung in Japan, Suzukis Erlebnisse im zweiten Weltkrieg, der Atombombe auf Nagasaki und aktueller Geschehnisse aus Anhs und Kenjis Leben zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen.
Und auch ich hätte davon so manches gar nicht wissen wollen. Fuminori Nakamura schreibt mit „Die Flucht“ ebenso wie sein Protagonist ein Buch, das man an manchen Stellen gar nicht weiterlesen will. Insbesondere wenn es zu den Foltermethoden an den japanischen Christen und den Auswirkungen der Atombombe kommt. So hält der selbstreferentielle Roman dem Leser den Spiegel vor – wollen wir beim Lesen nicht auch nur unterhalten werden? Wollen wir die unangenehmen Wahrheiten überhaupt hören? Erwarten wir automatisch die klassische Heldenreise und werten Bücher ab, die nicht diesem Muster folgen?
Gute 570 Seiten zählt das Werk. Es startet turbulent mit Kenjis Flucht vor dem Bösewicht B, der einem Tarantino-Film entsprungen sein könnte. Und mit dem Gebell eines Hundes. Leider hat die Google-Recherche nicht ergeben, ob Hundegebell im japanischen Kulturkreis etwas Unglückverheißendes ist. Wenn nicht, dann setzt nur der Autor das Bild immer dann ein, wenn etwas Böses am Entstehen ist. Das Unheil droht in Japan aktuell durch einen Rechtsruck und verstärkte Ausländerfeindlichkeit. Wie Kenji setzt auch Fuminori Nakamura mit seiner Veröffentlichung ein Zeichen gegen Rassismus. Das kurze Nachwort des Autors war für mich hilfreich, den einen oder andern Sachverhalt richtig einzuordnen (keine Details wegen Spoilergefahr 😉). Zwar ist der Roman an der einen oder anderen Stelle schwer verdaulich, aber trotzdem sensationell. Sowohl historisch als auch brandaktuell, spannend und gesellschaftskritisch zugleich.
Bibliographische Angaben:
Nakamura, Fuminori: „Die Flucht“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Steggewentz,
Luise), Diogenes, Zürich 2024, ISBN 978-3-257-07285-3
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