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Sonntag, 30. November 2014

„Trauriges Spielzeug“ von Takuboku Ishikawa

Das Tanka ist in seiner Funktion für Takuboku Ishikawa ein „Trauriges Spielzeug“. Der Autor verzweifelt an der Gesellschaft, er erlebt sich als ein

„Opfer des heutigen Familiensystems, Klassensystems, Kapitalsystems, des Systems der Käuflichkeit des Wissens“ (S. 102).

Wenn er könnte, so hat der Leser das Gefühl, würde er sämtliche soziale Regeln hinwegfegen und nach Gutdünken handeln. Doch im Einflussbereich von Takuboku Ishikawa befindet sich lediglich das Tanka. Das Tanka, das bisher in eine Zeile geschrieben wurde und exakt 31 Silben umfasste, kann der Autor revolutionieren. Wieso soll das Gedicht nicht in zwei oder drei Zeilen gesetzt werden? Und warum sollte man sich auf 31 Silben beschränken, wenn das auszudrückende Gefühl noch ein paar mehr Silben bedarf? Und warum nicht in der Alltagssprache schreiben? Nichtsdestotrotz wirft alles Experimentieren mit dem Tanka doch einen Schatten zurück: Ein „Trauriges Spielzeug“ ist das Tanka im Vergleich mit der Unfähigkeit des Autors, an den gesellschaftlichen Maßstäben zu rütteln.

Der Band „Trauriges Spielzeug“ enthält Tagebuchaufzeichnungen, Tanka und Shi (Gedichte nicht-japanischer Art). Insbesondere die Tagebucheinträge, die Takuboku Ishikawa in lateinischer Schrift verfasste, damit sie seine Ehefrau nicht entziffern konnte, geben einen intensiven Einblick in die Gefühlswelt des Autors:

„Ah die Literatur ist mein Feind. Und meine Philosophie ist nichts weiter als der Spott über mich selbst! Ich wünsche mir viele Dinge, aber ist es tatsächlich nicht einfach nur eine Sache? – Geld!“ (S. 22)

Das mangelnde Geld steht zwischen einer Wiedervereinigung mit seiner Familie, als Takuboku Ishikawa allein in Tokio weilt. Einerseits sehnt er sich nach seinen Angehörigen, andererseits scheinen ihn die familiären Verpflichtungen zu erdrücken. Er sieht sich als Individualisten, der sozialem Umgang keine positiven Anreize abringen kann, sondern dies als Zeitverschwendung ansieht. Takuboku Ishikawa formuliert seine Lebensmaxime wie folgt:

„Werde nicht von den Menschen geliebt! Empfange keine Wohltaten! Versprich nichts! Tu nichts, wofür du andere um Erlaubnis bitten musst! Rede auf keinen Fall zu anderen über dich selbst! Trage immer eine Maske! Sei bereit, jederzeit zu kämpfen! – jederzeit dem anderen auf den Kopf zu schlagen! Wenn du mit jemandem Freundschaft schließt: vergiss nicht, dass du irgendwann bestimmt mit ihm brechen wirst!“ (S. 45)

Freilich zeigen die Texte auch, dass Takuboku Ishikawas Leben und seine Lebensphilosophie allein aus finanziellen Gründen auseinander klaffen mussten.

Die Tanka in „Trauriges Spielzeug“ zeugen von aktuellen Ereignissen wie Takuboku Ishikawas Krankenhausaufenthalten oder der einsetzenden Sozialistenverfolgung. Doch auch die Sehnsucht nach dem Landleben, nach der Heimat wird thematisiert. Überhaupt steht Takuboku Ishikawa dem Stadtleben kritisch gegenüber: Das hektische Treiben in der Stadt schärft zwar die Sinne der Bewohner, doch die Moralität sinkt. Und natürlich liegen gesellschaftskritische Tanka vor wie z.B.

„jedem Menschen
sitzt im Herzen
ein Gefangener
jämmerlich
stöhnend“
(S. 77)

oder

„Kopf mein Kopf
denkst du
auch dieses Jahr
lauter Dinge
undurchführbar
in dieser Gesellschaft“
(S. 105)

Wolfgang Schamoni merkt im Nachwort zu „Trauriges Spielzeug“ an, dass die auch noch heute andauernde Faszination von Takuboku Ishikawa unter anderem darin begründet sein mag, dass der Autor einem romantischen Dichterbild entspricht. Der geniale, arme, zu Lebzeiten wenig bekannte Takuboku Ishikawa erkrankte und starb bereits im Alter von 26 Jahren.

Obwohl die Texte im japanischen Original schon vor mehr als 100 Jahren entstanden, sind die Themen immer noch höchst aktuell – insbesondere der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft wird ein Motiv mit ewiger Gültigkeit bleiben. So fasziniert das Werk von Takuboku Ishikawa immer noch und lässt bei vielen Fragestellungen inne halten: Was hat sich in 100 Jahren zum Besseren gewandt, welche Phänomene haben sich eher verschärft? Damit lässt sich „Trauriges Spielzeug“ als Kritik auch an der heutigen Gesellschaft lesen.

Bibliographische Angaben:
Ishikawa, Takuboku: „Trauriges Spielzeug“ (Übersetzung aus dem Japanischen: Schamoni, Wolfgang), Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, ISBN 3-458-16604-1

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